Sabine Bürger bewegt sich mit ihren Arbeiten in einer Art fiktiven Zwischenwelt. Im Mittelpunkt ihrer Fotografien steht ausschließlich sie selbst: ihr Körper, ihr Gesicht. Mit rein fotografischen Mitteln schafft die Künstlerin durch Abstraktionen und Manipulationen Abbilder, die in ihrem körperlich mystischen Erscheinungsbild ebenso irritierend wie faszinierend wirken.

Portfolio Sabine Bürger

Körper

Fotos: Sabine Bürger

Text: Anne Kotzan

bilder

Ein Frauenkörper in sitzender Haltung, das rechte Bein hochgestellt, den linken Arm entspannt herabhängend, während die Geste des rechten Arms an Rodins „Denker“ erinnert: Topoplast (Körper I), S. 65. Das Gesicht ist abgewandt. Trotz der eindeutigen Sitzposition schwebt die Figur völlig losgelöst im Raum. Dieses Spiel mit der Realität setzt sich in der Beschaffenheit der Haut fort, deren schwarzweiße Maserung an Flussläufe, Adern, Verästelungen erinnert, Assoziationen an ein Zebra oder eine Raubkatze heraufbeschwörend. Die ästhetische Bildkomposition wiederum nimmt dem Wesen viel von seiner Unheimlichkeit zugunsten einer gewissen Grazie und Verletzlichkeit. Dieses Jonglieren mit Positiv und Negativ im fotografischen wie übertragenen Sinn ist charakteristisch für Sabine Bürgers Arbeiten.

„Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ (Gotthold Ephraim Lessing)

Die Künstlerin verbrachte ihre Kindheit mit den Eltern in Bielefeld. Ihr Vater war Prokurist, die Mutter Hausfrau. Mit sechzehn entdeckte sie ihr Interesse für die Malerei, vier Jahre später begann sie ihr Studium an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf vorerst bei Prof. Ulrich Erben in der Abteilung Münster und wechselte dann zu Prof. Günther Uecker, dessen Meisterschülerin sie 1986 wurde. Ein einjähriges DAAD-Stipendium ermöglichte ihr den Besuch des Royal College of Arts, London. Während dieser Zeit bekam sie Kontakt zur alternativen Kunstszene der Themsestadt und konzentrierte sich zunehmend auf Performances. Beeinflusst unter anderem von den Körperchoreographien Rebecca Horns, machte sie ihren eigenen Körper zum Medium der

Ein Schlüsselerlebnis für ihre bis heute experimentierfreudige Arbeitsweise mit Flüssigkeiten war „Deutschland Gereinigt (1991), eine Performance, während der sie weiß gekleidet in einer Zinkwanne ein Schlammbad nahm. „Dabei ging es nicht nur um das Beschmutzen von reiner Wäsche, sondern um das persönliche, unmittelbare Erleben, Erleiden des Akts der Beschmutzung.“ Das persönliche Erleben spielt auch für ihre heutigen Arbeiten eine wichtige Rolle, obwohl Sabine Bürger sich mit ihrer Rückkehr nach Deutschland 1992 zunehmend von der Performance entfernte. Ihre ritualisierten Aktionen sollten nun von Zeit und Ort weitgehend unabhängig und wiederholt betrachtbar sein. Die Suche nach dem geeigneten Medium hat sie über Versuche mit Fotokopien zur Fotografie geführt. Wie Katharina Sieverding und Cindy Sherman, beide wegweisend auf dem Gebiet der Selbstverfremdung, machte sie sich zu ihrem eigenen Fotomodell. In der Aufnahme- und Dunkelkammertechnik ist sie Autodidaktin. „Ich habe mir selbst alles beigebracht, um mich mit der Fotografie ausdrücken zu können. Da ich keine Regeln zu befolgen hatte, konnte ich meinen eigenen Weg finden. Das betrachte ich als eine große Freiheit.“

Unverkennbar ist die Komplexität ihrer Bilder: Maskenhafte Köpfe, deren Konturen sich aufzulösen scheinen, andere zerfließen wie Eis in der Sonne, oder ihre an Mondlandschaften erinnernde Oberfläche zerbröselt wie Marmorstatuen, die unter Umwelteinflüssen leiden. Zudem rufen weitere Darstellungen in ihren verzerrten Überlagerungen Erinnerungen an die Fotoexperimente László Moholy-Nagys hervor. Gemeinsam ist ihnen allen eine gewisse Introvertiertheit. Abgewandt, nach innen gekehrt, suchen sie nicht den Blick des Betrachters, sondern sind in sich versunken, die Augen oft geschlossen, manchmal mit Händen bedeckt.

Anstatt vor Zuschauern agiert Sabine Bürger nun alleine im Atelier. „Am Anfang jeder Arbeit steht ein Foto, das von mir gemacht wird.“ Für das Foto posiert sie körperbewusst und mit konzentriertem Gesichtsausdruck vor der Kamera. Oft übergießt sie sich mit flüssigen Lösungen. Flüssigkeiten sind nicht nur auf Haut und Haaren spürbar, sie haben auch einen breit gefächerten Symbolcharakter. Leicht assoziiert man Gegensatzpaare wie dick- und dünnflüssig, genießbar und tödlich, Fließen und Erstarren sowie Geburt und Auflösung. Ihr langsames Herabrinnen, zähes Tropfen und Eindringen in Nase, Mund und Ohren löst existentielle Gefühle aus, von Geborgenheit oder Wohligkeit über Unbehagen bis zu Ekel oder Angst, was der „Arbeit eine gewisse innere Dringlichkeit, Notwendigkeit“ gibt. So ist für den Entstehungsprozess ihrer Bilder nicht nur die dokumentarische Momentaufnahme wichtig, sondern auch das unmittelbare Erfahren einer Situation, einer Geste, einer Körperposition. Dabei geht es der Künstlerin keineswegs um Selbstportraits; Sabine Bürger sieht sich selbst vielmehr als Material, mit dem sie arbeitet. Damit vernetzt sie auf einzigartige Weise das Sehen eines Motivs mit der emotionalen Erfahrung des Motivseins. Das Selbstbild wird zum Energieträger für etwas Neues. „Ich möchte das Motiv aus der realen Welt in eine fiktive Wirklichkeit stellen.“

Sabine Bürger (44)

... studierte an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf und wurde Meisterschülerin von Prof. Günther Uecker. Ein Stipendium des DAAD führte sie 1986 nach London, wo sie bis 1992 lebte und arbeitete. Nach diversen Stipendien und Auslandsaufenthalten lebt und arbeitet sie als freischaffende Künstlerin wieder in Deutschland. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland würdigen ihre fotografischen Arbeiten.

Man meint, die große innere Anstrengung der Künstlerin zu spüren, ihr Eintauchen in eine andere Dimension, abseits von Raum und Zeit. Sabine Bürger macht keine Einzelfotos, sondern arbeitet themenbezogen. „Ich muss ein Thema ganz bearbeiten, alles ausprobieren, seine Grenzen ausloten.“ Ihre derart entstehenden Serien sind das Ergebnis von systematischen Untersuchungen und zufälligem Entdecken, von einer Mischung aus Vernunft und Emotion. So besteht beispielsweise die Sequenz

Topoplast (2002) | 170 x 65 cm

Selbst- und Weltbefragung. In der janusköpfigen Doppelrolle von Autorin und ausführendem Objekt reflektierte sie im eigenen Erleben die traditionelle Rolle der Frau in unserer von Medien geprägten Konsumgesellschaft. „Obwohl ich mit meinem Körper gearbeitet habe, ihn gezeigt habe, konnte ich das Objektsein auflösen, indem ich selbst gleichzeitig die Handelnde war.“

Topoplast (Großer Kopf III) (2002)

S/W-Fotografie/Negativdruck | 150 x 80 cm

Protoplast (links: Großer Kopf II, rechts: Großer Kopf IV) (2001) | S/W-Fotografie, je 125 x 80 cm

Tekton (Großer Kopf IV) (2003)

S/W-Fotografie/Negativdruck | 150 x 80 cm

„Negative Sources“ aus 160 kleinen Einzelarbeiten. Der Grundkörper für diese an Kaleidoskop- bilder, Rohrschachtest und geheime Zeichen erinnernden geometrischen, meist harmonischen Figuren ist der Torso der Fotografin in unterschiedlichen Stellungen. „Mich interessieren die neuen Formen, die entstehen, wenn man sie übereinander belichtet.“ Aus dem Arbeitsprozess mit den „Kleinen Körpern“ entwickelten sich auch großformatige Bilder, auf denen die einzelnen Kompositionen im freien Raum zu schweben scheinen. Für die Realisation ihrer mystisch anmutenden Bilder nutzt sie keine Collage- oder Computertechniken, sondern ausschließlich fotografische Mittel. Sie manipuliert weder die Negative, noch verwendet sie spätere Übermalungen. So ist auch die gebückte, scheinbar mit Tuschestrichen nachgezeichnete Figur „Topology" (ganz oben rechts) mit den Mitteln traditioneller Fotografie entstanden. Sabine Bürger sucht ihre Identität im Anderen, im von ihr selbst geschaffenen Wesen oder einer neuen Komposition. Das neu geschaffene Bild als Spiegel der Seele animiert den Betrachter, weniger die Künstlerin darin zu sehen als sich selbst.

Tekton (Großer Kopf II) (2003)

S/W-Fotografie/Negativdruck | 150 x 80 cm

Negative Sources (Kleine Körper 1-6) (2003)

Serie von ca. 160 Unikaten | S/W-Fotografie/Negativdruck | je 18 x 13 cm

SCHWARZWEISS 44 DAS MAGAZIN FÜR FOTOGRAFIE – Jan./Feb. 2005